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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 02.08.2010


Mother - Obsessive Mutterliebe
Evelyn Gaida

Ein einsames Feld und eine Frau, die zu einem unhörbaren Rhythmus tanzt. Sie ist offenbar nicht ganz bei sich, denn ihre Mimik und Gestik harmonieren nicht miteinander. Der Eindruck inneren ...




... Getriebenseins der Protagonistin Yoon Hye-ja (Kim Hye-ja) prägt nach der Eingangssequenz auch weiterhin den Film.

Fanatische Sorge

Szenenwechsel. Yoon Hye-ja in der Enge ihres spärlich beleuchteten naturmedizinischen Ladens umgeben von Heilkräutern. Mit äußerst besorgter Aufmerksamkeit und fast schon fanatisch glimmenden Augen beobachtet sie ihren erwachsenen Sohn Yoon Do-jun (Won Bin) auf der Straße - den prompt ein teures Auto anfährt. Kurz darauf wird ihre Sorge besser verständlich, denn Yoon Do-jun erweist sich als manipulierbar, abhängig und geistig nicht altersgemäß entwickelt. Ein harmloser Dumme-Jungen-Racheakt auf Unfallauto und fahrerflüchtige Personen, den Yoon Do-jun gemeinsam mit seinem zwielichtigen Freund Tae Jin (Gu Jin) verübt, kommt ihn finanziell teuer zu stehen. Schon früh wird die gesellschaftskritische Ausrichtung des Films offensichtlich: Der achtlose Fahrer und seine Begleitung sind Professoren, die sich nach eigener Aussage für "zu bedeutend" halten, um ihre Zeit auf der Polizeistation zu vergeuden. Gegenüber dem körperlich zu Schaden gekommenen Yoon Do-jun heben sie den unschätzbaren Wert ihres Mercedes-Modells hervor.

Satire?

Wer jedoch glaubt, die Sympathiewerte würden nun eindeutig den Armen und Schwachen der Gesellschaft zugewiesen, irrt sich gewaltig. Yoon Hye-ja tut alles, um die Unselbständigkeit ihres Sohnes und dessen Bindung an sie zu fördern: Sie zerteilt ihm das Essen, betont, spezielle Essenzen hineingemischt zu haben, die seine "Manneskraft" stärken sollen und betrachtet letztere ausgiebig, als er draußen auf der Straße pinkelt, während sie ihm gesundheitsfördernden Tee einflößt. Eine Satire? Die wahnhafte Ernsthaftigkeit und spätere seelische Not Yoon Hye-jas laufen ihr zuwider. Regisseur Bong Joon-ho, dessen letzter Film "The Host" zum erfolgreichsten südkoreanischen Film aller Zeiten avancierte und international Aufsehen erregte, ist dafür bekannt, Genre-Konventionen bewusst zu untergraben.

Gesellschaftsvertreter

Das Unheil und die Absurditäten nehmen vollends ihren Lauf, als Yoon Do-jun unter Mordverdacht gerät. Für die trägen und nachlässigen Polizisten ist der Fall schnell zu Ungunsten des jungen Mannes erledigt, also muss die streitbare Mutter in die Rolle der Ermittlerin schlüpfen. Nicht nur in Yoon Hye-jas eigenem Empfinden, sondern auch für die Aufmerksamkeitsspanne der ZuschauerInnen gehen ihre Investigationen vorerst nur schleppend voran. Sie dienen Regisseur Bong Joon-ho jedoch dazu, VertreterInnen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen der Reihe nach vorzuführen. Umgeben von Animiermädchen, den Überresten eines Alkoholgelages und bereits entschlummerten Kollegen klärt der überteuerte Anwalt die verzweifelte Mutter in einem Hinterzimmer darüber auf, dass ein fünfjähriger Aufenthalt in der Heilanstalt für ihren Sohn ein Geschenk wäre.

Wendungen und Abgründe

In den Vordergrund tritt anstelle individueller Charakteristik häufig eher die demonstrative Funktion solcher Nebenfiguren und Situationen, wodurch das Geschehen wiederholt ein zwar aussagekräftiges, aber auch konstruiertes Gepräge annimmt. Neben dem verhackstückten Genre-Gemisch - Kriminalfilm, Psychothriller, Melodrama und schwarze Komödie werden in der detektivischen Mutter-Geschichte versammelt - verfügen einige Charaktere andererseits über signifikante und überraschende Brechungen. Alles ist anders als vermutet, immer weitere Wendungen und Abgründe tun sich auf, sodass der Film an Spannung und Intensität im Lauf der Handlung zunimmt. Der Hintergrund des ermordeten Schulmädchens führt in ein Netz von sexuellen Obsessionen, Erpressung, moralischer Haltlosigkeit - und zu einer traurigen Enthüllung, die besonders beißende Gesellschaftskritik transportiert.

Psychogramm und Demontage

Insgesamt ist der filmische Blick, den der Regisseur auf seine Figuren wirft, ein mitleidloser, der nicht nur die Gesellschaft, sondern Menschen vorführt und es vor allem darauf anlegt, Unbehagen hervorzurufen. Davon ist auch Yoon Hye-ja, die psychologisch Vielschichtigste, nicht ausgenommen. Ihre Mutterliebe nimmt immer wahnwitzigere Züge an, ihre Gemütslage erscheint oft als Objekt mikroskopischer Untersuchung, versiert in Szene gesetzt durch intime Nahaufnahmen ihres Gesichts und klaustrophobisch anmutende, fahl beleuchtete Räumlichkeiten. In ihrer Körpersprache und ihren Augen zittert eine krampfhaft unterdrückte innere Spannung, die sie jeden Moment zu zerreißen droht. Der Film wurde mit anamorpher Linse im Format 2.35:1 aufgenommen, um Ängste und Hysterie auch technisch stärker hervorzuheben, so der Regisseur.

Hauptdarstellerin Kim Hye-ja, in Südkorea legendärer Serien- und Filmstar mit dem Ruf einer "Mutter der Nation", brilliert in der Rolle Yoon Hye-jas. Sie betrat damit bewusst neues Terrain. Bei den Asian Film Awards 2010, dem asiatischen Oscar®-Äquivalent, wurde sie für ihre Leistung als Beste Hauptdarstellerin ausgezeichnet. Ihr Leinwandauftritt wirkte im patriarchalisch geprägten Korea revolutionär und wurde in den Medien ausgiebig diskutiert. Regisseur Bong Joon-ho sieht die Beziehung von Mutter und Sohn als "Basis für alle menschlichen Beziehungen." In "Mother" unterwirft er dieses Verhältnis einer krassen Demontage, die jedoch häufig so forciert daherkommt, dass sie sich letztendlich gleich selbst mit demontiert.

AVIVA-Tipp: Düstere Gesellschaftskritik in vielen sich widerstrebenden Genre-Gewändern, die zwischen überraschenden Wendungen und Langatmigkeit pendelt, gespickt mit determiniert befremdlichen Details. Trotz ausdrucksintensiver Schauspielkunst der Hauptdarstellerin wirken die Charaktere eher wie kühl manövrierte, zweckdienliche Schachfiguren des Regisseurs, wird das Geschehen einem gewissen Psycho-Voyeurismus unterworfen. Unbehagliche (An)Spannung, abgründige seelische Energien und entlarvende Draufsicht werden in dieser beklemmenden Mutter-Sohn-Beziehung und Kriminalgeschichte aber mit Sicherheit aktiviert, die Schauplätze sind beeindruckend.

Zum Regisseur: Bong Joon-ho wurde am 14. September 1969 in der südkoreanischen Provinzmetropole Daegu geboren, zog jedoch bald mit seiner Familie in die Landeshauptstadt Seoul um. An der Yonsei Universität studierte er Soziologie und drehte während dieser Zeit Kurzfilme auf 16mm, um dann ein Jahr an der Korean Academy of Film Arts zu studieren. Im Jahr 2000 erschien sein Spielfilmdebüt BARKING DOGS NEVER BITE. Basierend auf dem wahren Fall von Koreas erstem Serienkiller drehte Bong MEMORIES OF MURDER (2003), der unter FachjournalistInnen und KinoexpertInnen zum besten koreanischen Film der ersten Dekade des 21. Jahrhundert gewählt wurde. Mit THE HOST, der erfolgreichsten koreanischen Filmproduktion aller Zeiten, gelang ihm der (internationale) Durchbruch. MOTHER war als offizieller Beitrag Südkoreas für die Oscar®-Verleihung 2010 nominiert, und gewann bei den Asian Film Awards 2010, dem asiatischen Oscar®-Äquivalent, mehrere Preise, darunter die Auszeichnung für Bester Film, Bestes Drehbuch und Beste Hauptdarstellerin. Darüber hinaus hat "Mother" 2010 den mit 50.000 Euro dotieren Arri-Zeiss-Preis für den besten ausländischen Film auf dem Filmfest München erhalten.

Mother
Madeo
Südkorea 2009
Deutsche Fassung und OmU
Regie: Bong Joon-ho
Buch: Park Eun-kyo, Bong Joon-ho
DarstellerInnen: Kim Hye-ja, Won Bin, Gu Jin u.a.
Verleih: MFA+ FilmDistribution e.K.
Lauflänge: 128 Minuten
Kinostart: 05. August 2010

Weitere Informationen finden Sie unter:

www.mfa-film.de

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Beitrag vom 02.08.2010

Evelyn Gaida